Es war fast Winter, als er sich auf den Weg machte. Sein Hirtenstab, mit dem er sommers die Kühe hütete, sollte jetzt zum Pilgerstab werden. Am 07. November schloss Franz Schießl die heimische Tür und machte sich allein und zu Fuß auf den über 2600 Kilometer langen Weg nach Santiago de Compostela, zu deutsch: “Heiliger Jakob auf dem Sternenfeld”.
Winter auf dem Jakobsweg
Einen ganzen Winter dauerte seine Reise durch die deutschen Lechauen, über Schweizer Alpenpässe, durch die Ebenen Südfrankreichs und über die Pyrenäen auf die iberische Halbinsel. In seinem 13 Kilo schweren Rucksack trug er nur das Nötigste: einen Schlafsack, einen kleinen Gaskocher, Seife, eine Zahnbürste, Regenschirm, Sandalen, eine leichte Baumwollhose, eine aufblasbare Isomatte und seine Fotokamera. Das Handtuch schickte er nach ein paar Tagen wieder nach Hause, zu viel Gewicht.
Pilgern zum Grab von Jakobus dem Älteren in Spanien
Schon vor 1200 Jahren machten sich die ersten Pilger Europas auf den Weg zum Grab des Apostels Jakobus des Älteren, das sich der Legende nach in Santiago de Compostela befindet.
Ob das wirklich so ist, kann wissenschaftlich nicht bestätigt werden.
Tatsache ist aber, dass sich jedes Jahr bis zu 200 000 Menschen zu der durch einige Wunderheilungen bekannt gewordenen Stätte aufmachen. Sie kommen aus ganz Europa, gehen aus den unterschiedlichsten Gründen und auf unterschiedlichen Wegen.
Es sind nicht nur besonders gläubige Menschen auf dem Jakobsweg unterwegs. Auch die touristischen Attraktionen wie Kirchen und Klöster oder die körperliche und mentale Herausforderung ziehen die Pilger an.
Die Faszination des Camino
Franz Schießl suchte vielleicht von allem etwas und irgendwie auch nichts davon. Ihn lockte die Faszination des Weges, das Bewusstsein, dass schon seit tausend Jahren Menschen diesen Weg bewandert haben, alle mit demselben Ziel. Seit der 33-Jährige einen Diavortrag über den Jakobsweg gesehen hatte, ließ ihn der Gedanke an die geschichtsträchtige Route nicht mehr los. Zwei Jahre später brach er auf.
“Ich wollte einfach mal raus”, erinnert sich der Schwabe. Das klingt etwas befremdlich, besonders wenn man weiß, welcher Arbeit er nachgeht: Franz Schießl ist im Sommer Hirte auf einer Alm in der Schweiz. Er kümmert sich um die Kühe, steht um vier Uhr morgens auf, geht mit den anderen Hirten melken, versorgt die lahmen Tiere, steckt Weidezäune ab oder repariert sie. Diese urtümliche Arbeit, frei und ebenso ungeschützt in unberührter Natur, sei wie eine Sucht, sagt er. Im Winter, wenn die Kühe in den Ställen im Tal stehen, kehrt Schießl nach Schwaben zurück und arbeitet als Holzfäller in den heimischen Wäldern. Nicht ohne Grund gilt er im Freundeskreis deswegen als “Paradiesvogel”.
Mentale Herausforderung
Trotzdem war der Jakobsweg für ihn nicht einfach. Körperlich habe er keine Probleme gehabt, meint er, denn die Alm hat ihn zäh gemacht. Die mentale Herausforderung war ungleich größer. Oft wollte er aufhören, einfach in den Zug einsteigen und nach Hause fahren. “Nach drei Wochen kommt ein Loch”, sagt er. “Doch dann war der nächste Bahnhof genauso weit weg wie der letzte.” Deswegen ging er weiter. Immer wieder weiter. Das “Suchen nach Wegrandblümchen” habe ihm über das Tief hinweggeholfen.
Oft fand er nicht gleich eine Unterkunft, musste bis zu fünf Stunden suchen oder gleich draußen unter freiem Himmel schlafen, denn viele Pilgerunterkünfte haben im Winter geschlossen.
Herbergssuche an Heilig Abend in Frankreich
Und so begab es sich an Weihnachten 2000, dass er – Maria und Josef gleich – einen Unterschlupf für Heiligabend suchte. Die Pilgerherberge in dem kleinen französischen Ort hatte zu, das Gasthaus war ausgebucht und der Wirt schickte ihn zu einem anderen Gasthof, der aber ebenfalls geschlossen hatte. Wieder zurück beim Wirt erfuhr Schießl, dass es nur noch zwei “Retter” gebe: den Pfarrer oder den Ortspolizisten. “Ich hätte den Heiligen Abend auch im Gefängnis verbracht”, sinniert Schießl. Er entschied sich aber dann doch, zuerst beim Pfarrer nachzufragen. Der bot ihm ein kleines Zimmer in seinem Haus an, in dem sich gerade die Kinder für das Krippenspiel kostümierten…Das war fast schon Luxus.
Pilgern macht demütig
”Ich habe während meiner Reise meine Bedürfnisse radikal zurückgeschraubt. Wichtig waren nur noch Essen, Schlafen und Waschen”, erinnert sich der Wanderer. Zu essen gab es, was sich auf dem kleinen Kocher warm machen ließ und leicht zu tragen war: Päckchensuppe, Päckchensuppe und Päckchensuppe.
Die wenigsten Pilger gehen den Jakobsweg an einem Stück. Meist ist einfach keine Zeit dafür. Manche gehen jedes Jahr einen Teil und fangen dann im nächsten Jahr wieder dort an, wo sie aufgehört haben. Bis sie in Santiago angekommen sind. Andere gehen nur den spanischen Weg, den “Camino de Santiago”, oder gleich nur die letzten 100 Kilometer. Denn nur wenn man mindestens diese Strecke hinter sich hat, bekommt man in Santiago de Compostela den begehrten Pilgerausweis.
Das wahre Ziel: Kap Finisterre
Franz Schießl marschierte sogar noch weiter. Als er müde und abgemagert, aber zur Feier des Tages frisch gewaschen in Santiago ankommt, ist er zunächst enttäuscht. Die erwartete Euphorie, es endlich geschafft zu haben, will sich nicht einstellen. Ihm fehlt das Gefühl, am Ziel zu sein. Deswegen beschließt er, weiter zu gehen. Nach weiteren drei Tagen und 90 Kilometern ist er am Meer, in Finistere. Der Name Finistere kommt vom lateinischen “finis terrae”, was auf deutsch “Ende der Welt” bedeutet. Von hier, glaubten die Menschen im Mittelalter, ginge es nicht mehr weiter. Man glaubte, dass am Kap Finisterre – dort, wo die Sonne im Atlantik versinkt – die Seelen der Verstorbenen ihren Übergang ins Jenseits antreten. Wenn die Sonne unterging, „folgten“ ihr die Seelen und traten die Reise in die Andere Welt an. Der leuchtende Horizont galt als Pforte, die sich jeden Abend kurz öffnet.
Hier, am Kap Finisterre, kann Schießl aufatmen. Er hat es geschafft, er ist am Ziel. Selig stürzt er sich in den winterlich kalten Atlantik. Gleich drei Mal. Dann geht er wieder zurück nach Santiago.
Faszination Santiago die Compostela
Jetzt sieht er die Stadt mit anderen Augen. Sieht die Schönheit der Basilika, in der das größte Weihrauchfass der Welt hängt. Es wiegt 80 Kilo und pendelt an einem 30 Meter langen Seil. Acht Männer sind nötig, um es so in Schwung zu setzen, dass es fast die Decke berührt. Und obwohl der 33-jährige Katholike nicht glaubt, dass hier das Grab des Apostels Jakob ist, ist er fasziniert von der Ausstrahlung des Ortes.
Was bleibt vom Jakobsweg? Es sind die Einsamkeit und die Begegnungen, die die Seele berühren und die Pilger nachhaltig verändern:
“Ein freundliches Wort hat mich auf meinem Weg weiter gebracht, als jede Bewunderung. Von sowas kann man viele Kilometer zehren”, sagt Franz Schießl.
Überarbeitete Version eines am 24.12.2005 in der Aichacher Zeitung veröffentlichten Textes. Der Name des Protagonisten wurde geändert.
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